Kurz oder lang? Vor dem Sport, nachher oder sogar währenddessen? Und wie oft in der Woche oder sogar täglich?
„Du bist ja gar nicht beweglich! Dehnst du dich etwa nie?“ Bestimmt hast du Sätze wie diesen schon einmal gehört.
Es existieren viele Meinungen über das Thema Dehnen, die leicht zu Verwirrung führen können. Auch in der Wissenschaft wurden über die Jahre hinweg viele neue Erkenntnisse gewonnen und andere bereits feststehende Vorstellungen wieder über Bord geworfen.
In diesem Artikel erfährst du, welchen Effekt das Dehnen überhaupt auf die verschiedensten Strukturen unseres Körpers hat,
welche Dehnmethoden es gibt und wie man diese richtig anwendet.
Es gibt viele Strukturen, die dich in deiner Gelenkbeweglichkeit einschränken können. Doch welche von diesen kannst du überhaupt mit einer Dehnung beeinflussen?
Nehmen wir mal an, du hast begonnen dich zu dehnen, versuchst jetzt einmal am Tag im Langsitz die Zehenspitzen zu berühren, weil du gehört hast, dass dies die hintere Oberschenkelmuskulatur dehnt.
Sowie du in die Dehnposition gehst, spürst du schon das Ziehen in der Kniekehle und denkst dir „Super, ich spür schon, wie sich der Muskel verlängert!“
Nun, da muss ich dich leider enttäuschen. Denn weder kann sich
der Muskel strukturell verlängern, noch erwischst du hier die Struktur, damit der gewünschte Dehneffekt eintritt.
In unserem kleinen Beispiel dehnst du nämlich den Nerv. Und dieser möchte nicht gedehnt und kann auch nicht gedehnt werden. Was der Nerv allerdings in gewissen Situationen schon gutheißt, ist eine Mobilisation durch sogenanntes Nervenschieben (Slider) oder Nervenspannen (Tensioner). Beide verbessern das Gleitverhalten deines Nervs und somit deine Gesamtbeweglichkeit. Damit du diese Techniken aber richtig anwenden kannst, ist es wichtig, dir die Dehn- sowie Mobilisationsübungen von einer Fachperson erklären zu lassen, die das notwendige Hintergrundwissen dazu besitzt.
Jetzt weißt du, dass das Dehnen von Nerven nicht unbedingt das ist, was dein Körper will. Doch wie oder was sollst du dann dehnen? Zum einen gibt es die allseits bekannte Variante, den Muskel statisch zu dehnen und zum anderen kann auch die sogenannte Gelenkkapsel gedehnt werden.
Das konventionelle, statische Muskel-Dehnen beschreibt eine kontrollierte, kontinuierliche Bewegung ans Ende der Beweglichkeit deines Muskels, der über ein oder mehrere Gelenke zieht.
Dabei befindet sich dein Muskel in einer verlängerten Position über eine gewisse Zeitperiode. Ja, du hast richtig gehört, er befindet sich in einer verlängerten Position, aber er verlängert sich strukturell nicht!
Die genauen Mechanismen des Dehnens auf die verschiedenen Strukturen unseres Körpers sind bis heute nicht vollständig geklärt. Fakt ist aber, dass man den Muskel nicht strukturell verlängern kann, wie früher angenommen wurde. Vielmehr wird heute bei langfristigem Dehntraining eine gesteigerte Toleranz gegenüber dem Dehnreiz oder dem Dehnschmerz sowie mögliche Veränderungen in der Muskelsehnen-Einheit erwartet.
So kann über einen längeren Zeitraum bei regelmäßigem Dehntraining
eine Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit stattfinden.
Jedoch ist es an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass Dehnen hier nicht an deren Therapie-Interventionen, wie beispielsweise Krafttraining im vollen Bewegungsausmaß, überlegen ist, und dass Dehnen auch kein Allheilmittel für Gelenkprobleme ist. Daher ist es wichtig, sich im Vorhinein zu überlegen, mit welchem Ziel man dehnen will.
Kommen wir wieder zurück zu unserem Beispiel:
Du spürst die Dehnung mittlerweile dort, wo du sie spüren solltest. Richtig, im hinteren Oberschenkel. Nach 20 Sekunden kommen dir die nächsten Fragen in den Sinn.
Wie lange soll ich jetzt noch in der Position bleiben und dehne ich überhaupt intensiv genug? Leider ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten und wird nicht nur unter uns Physiotherapeut*innen, sondern auch in der Forschung scharf diskutiert. Eine vereinfachte Möglichkeit kann jedoch sein, einfach mal in seinen Körper zu spüren.
Also gehen wir in unserem Beispiel in die richtige Dehnposition und halten diese einmal für 45 Sekunden. Bedauerlicherweise hast du nach der Dehnung aber nicht das Gefühl, dass sich jetzt viel getan hat. Nun hast du zwei Schrauben, an denen du drehen kannst. Einerseits kannst du
die Intensität anpassen. Hier solltest du dich ca. im Bereich eines Dehnschmerzes von 4-6/10 aufhalten. Andererseits gibt es die Möglichkeit, die Zeit in der Dehnposition zu verlängern.
Alles klar, jetzt weißt du also ein wenig mehr über die Muskeldehnung. Jetzt fehlt uns nach dem Nerv und dem Muskel noch die Kapseldehnung.
Jedes deiner Gelenke umspannt nämlich eine Kapsel, die
aus Bindegewebe besteht. Diese Gelenkkapsel kann nun auch statisch gedehnt werden. Doch auch hier stellst du dir selbstverständlich die Fragen, wann und wie?
Die Kapseldehnung ist auch eine Möglichkeit, deine Gelenkbeweglichkeit zu verbessern, jedoch gibt es hier spezifische Indikationen, die vorher von einer Fachperson untersucht werden sollten. Wichtig bei der Kapseldehnung ist zu wissen, dass es Unterschiedezur Muskeldehnung gibt, was Dauer und Intensität angeht.
Bei einer Kapseldehnung spricht man von einer Zeitperiode von 2-5 Minuten, in der du die Position halten sollst. Die Intensität liegt hier etwas niedriger bei 4/10.
Zum Abschluss noch ein kurzer Exkurs zum Thema Dehnen und Sport. Während früher langes statisches Dehnen (über 60 Sekunden) oft als fester Bestandteil eines Aufwärmprogramms vor dem Sport angesehen wurde, geht man heute davon aus, dass diese Form des langen Dehnens eher die Leistungsfähigkeit beeinträchtigt.
Auch bei kürzeren Dehnprogrammen (unter 60 Sekunden) scheint es nur geringe bis gar keine Effekte zu geben. Dies gilt unabhängig davon, ob du Sportarten betreibst, die hohe Geschwindigkeiten oder hohe Kräfte erfordern.
Beim Aufwärmen empfehle ich dir daher, wenn überhaupt, dynamisches Dehnen, anstatt statisches Dehnen durchzuführen, da so eventuell die Leistung verbessert werden kann.
Nun, du siehst, es ist nicht so einfach mit dem Thema Dehnen. Letztendlich bietet dir Dehnen die Möglichkeit, entweder kurzfristig sowie
auch langfristig deine Gelenkbeweglichkeit zu verbessern.
Jedoch sollte dir immer bewusst sein, dass Dehnen kein Wundermittel zur Verletzungsfreiheit ist. Deswegen solltest du bei Verletzungen oder Schmerzen immer eine Fachperson aufsuchen, die deine Situationen besser beurteilen kann und erkennt, ob du eine Dehnung brauchst oder doch beispielsweise Krafttraining das Richtige ist.
Am Ende dieses Blogartikels möchte ich dich darauf hinweisen, dass dies nur ein ganz kurzer und persönlicher Einblick in die Welt des Dehnens war. Auf viele Aspekte wie zum Beispiel anatomische Aspekte oder Individualität konnte daher nicht eingegangen werden. So wie bei jedem komplizierten Thema steckt auch hinter dem Dehnen eine ganze Wissenschaft, dennoch hoffe ich, dass du dadurch ein wenig beweglicher im Thema Dehnen geworden bist.